Theoria cum praxi? – Bielefelder Fachtag zum schwierigen Verhältnis von Theorie und Praxis in der Lehramtsausbildung
Am 15. November 2019 nahmen das QLB-Projekt BiProfessional und der Vorstand der Bielefeld School of Education (BiSEd) das 50-jährige Jubiläum der Universität Bielefeld zum Anlass, um auf die Bearbeitung der Theorie-Praxis-Relation in der Lehrerbildung (zurück) zu blicken. Im Zentrum standen neben verschiedenen wissenschaftlichen Perspektiven auch die Sichtweisen von Studierenden.
Von Julia Schweitzer
Die Begrüßung des stellvertretenden Direktors der BiSEd, Prof. Dr. Matthias Wilde, machte deutlich, welcher Fokus bei der Diskussion über das Verhältnis von Theorie und Praxis in der Lehramtsausbildung aktuell häufig gelegt wird: Es geht vornehmlich um die Forderung nach mehr Schulpraktika während des Studiums und deren Ausgestaltung. Dass „Praxis“ im Verhältnis zu Theorie aber auch anders gedacht werden kann, zeigten die fünf Vorträge des Fachtags.
Zu Beginn verdeutlichte Dr. Selma Haupt (RWTH Aachen University) aus disziplinärer Perspektive unterschiedliche Bestimmungen des Verhältnissens von Theorie und Praxis in der Erziehungswissenschaft. Aus den Verhältnisbestimmungen systematisierte sie offene Fragen, wie bspw. die nach der Basis der Normativität in der Theorie oder der Praxis. Sie schloss mit der These einer „Verschwierigung“ des Verhältnisses.
Im zweiten Vortrag diskutierte PD Dr. Thomas Wenzl (Leibniz Universität Hannover) studentische Perspektiven auf die Forderung nach „mehr Praxis“. Auf der Grundlage von Interviews arbeitete er heraus, dass keine stabilen Überzeugungen darüber bestehen, was sich mit dem Sprechakt „mehr Praxis“ eigentlich gewünscht wird. Der Hannoveraner forderte schließlich von der universitären Ausbildungsphase auf das Versprechen einer Berufsvorbereitung zu verzichten und votierte für mehr Wissenschaft statt mehr Praxis im Lehramtsstudium.
Nach der Pause warfen Prof. Dr. Martin Heinrich und Dr. Johannes Tschapka (beide Universität Bielefeld) die Frage auf, inwiefern Studienprojekte im Praxissemester im Sinne eines „Forschenden Lernens“ ein Weg sein können, Kritikfähigkeit zu erwerben. Hier sahen die Vortragenden insbesondere die Gefahr, dass Studierende in die unkritische Rezeption empirischer Bildungsforschung und bewertende Kritikformen („gut oder schlecht“) einsozialisiert werden. Kritikfähigkeit im Sinne Spinozas als ein Denken jenseits von „Autoritäten“ würde so verfehlt.
Im vierten Vortrag erweiterten Prof. Dr. Annette Textor und Dr. Timo Zenke (beide Universität Bielefeld) die Betrachtung des Theorie-Praxis-Verhältnisses um die Perspektive von Lehrkräften. Dazu stellten sie die historische Entwicklung an der Laborschule dar und erläuterten das Lehrerforscher-Modell. Sie machten deutlich, dass die Erfassung konkreter Fragestellungen aus der Schulpraxis und deren Bearbeitung durch Forschung und Theorie(-bildung) sowohl für die eigene Schulentwicklung als auch den Transfer in die Wissenschaft relevant sein können.
Die Vortragsphase des Fachtages endete mit den Ausführungen von Prof. Dr. Barbara Koch (Universität Kassel), die das Verhältnis von Theorie und Praxis mit Blick auf studentische Praxisforschung betrachtete. Sie grenzte diese Art der Forschung von Studienprojekten im Praxissemester ab und stellte die These auf, dass ein rekonstruktiv-forschender Zugang dem Aufbau einer forschenden Grundhaltung förderlicher sei als andere Zugänge.
Den Abschluss des Tages bildete eine von Prof. Dr. Martin Heinrich moderierte Diskussion zwischen PD Dr. Thomas Wenzl, Anne-Kathrin Steude (Fachschaft Lehramt Universität Bielefeld) und Dr. Andreas Feindt (WWU Münster) über das Theorie-Praxis-Verhältnis. Dabei wurden u.a. die Fragen aufgeworfen, ob und wie das Niveau der „Vermittlungstätigkeit“ durch die universitäre Ausbildung gesteigert werden kann und ob die Unzufriedenheit vieler Studierender mit der universitären Ausbildung nicht auch ein Stück weit in teilweise wenig überzeugender Lehre begründet liegen könnte.