Schule im Ausnahmezustand – wie die Coronakrise den Unterricht verändern wird : Datum:
Die Coronakrise hat wie unter einem Brennglas die Schwächen des Schulsystems offengelegt. In Rekordzeit holen die Schulen seitdem die versäumte Digitalisierung nach und erhalten dabei Unterstützung auch aus den Universitäten. Jetzt kommt es darauf an, das neue Schuljahr vorzubereiten, das immer noch unter Corona-Bedingungen stattfinden wird, den Lehrkräften bei der Fortbildung zu helfen und damit den didaktischen Fortschritt zu sichern, der ausgerechnet aus der Krise heraus entstanden ist.
Von Jan-Martin Wiarda
Das sei wie mit einer Decke, die plötzlich weggerissen wird, sagt Myrle Dziak-Mahler: "Auf einmal sieht man das ganze Elend, das darunter verborgen lag."
Das Elend, von dem die Geschäftsführerin des Zentrums für LehrerInnnenbildung an der Uni zu Köln redet, war der Schulalltag vor der Pandemie: geprägt von Lehrermangel, maroden Gebäuden inklusive heruntergekommenen Sanitäranlagen und einem Stand der Technik, der dem Vor-Internet-Zeitalter entstammte. So zumindest hat Dziak Mahler die Realität an vielen Schulen – und sie kann hunderte überblicken – wahrgenommen. Doch das, sagt sie, seien nur die äußeren Rahmenbedingungen gewesen. "Oben drauf kamen vielerorts didaktische Konzepte, die nicht auf der Höhe der Zeit waren, und Schulleitungen, die nicht leiten wollen."
Die erbarmungslose Kraft, die die Decke weggerissen hat, war das Coronavirus, die wochenlangen Schließungen der Schulen überall in Deutschland. Von einem Tag auf den anderen sollten die Kollegien auf Fernunterricht umstellen, am besten digital. Mancherorts sei das richtig gut gelungen, sagt Dziak-Mahler. "Aber nur da, wo unter der Decke vorher schon vieles recht anschaulich aussah."
Anderswo wuchs mit jeder Woche des Fernunterrichts der Frust: Lehrer hatten das Gefühl, sie erreichen ihre Schüler nicht mehr; Eltern fühlten sich überfordert und Schüler waren ohne die richtige technische Ausrüstung abgehängt. Andere hätten sich über jede Form der virtuellen Anregung gefreut. Doch was einige von ihnen bekamen, waren seitenweise Aufgaben aus dem Lehrbuch.
Und doch: Besteht in der Krise eine Chance? Wird der Unterricht nach Corona ein anderer sein? Was bleibt von den Veränderungen, die das Lernen unter Pandemiebedingungen mit sich gebracht hat?
Wieviel sich geändert hat, zeigt der Ausblick aufs neue Schuljahr, den neulich eine Expertenkommission im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) gewagt hat.
Das Digitale ist aus der Schule nicht mehr wegzudenken: Was der seit 2016 verhandelte Digitalpakt Schule nicht vermochte, hat das Coronavirus geschafft. Und erst in der Pandemie haben Bund und Länder sich das Ziel gesetzt, mithilfe von Sonderprogrammen jedes Kind mit der nötigen Technik auszustatten. Eine gute Nachricht – und zugleich erneut bestürzend, dass es dafür erst einer Pandemie bedurfte.
Klar ist aber auch, dass es für gelungene Schule unter Pandemiebedingungen mehr braucht als die digitale Aufrüstung. Eine kluge Verschränkung von Präsenz- und Fernunterricht vor allem, wie die FES-ExpertInnen ausführten, dazu Mindestanforderungen an die Qualität und die Gestaltung des Fernunterrichts und unabhängig von der Unterrichtsart jederzeit feste Ansprechpersonen für jeden Schüler in der Schule.
Vielerorts machen die Schulen sich auf den Weg – und erhalten Unterstützung auch aus den Universitäten. Besonders die Netzwerke, die im Rahmen der "Qualitätsoffensive Lehrerbildung" (QLB) entstanden sind, bewähren sich gerade. So erstellte die Universität Passau Handreichungen für ihre Projektschulen mit Tipps und Links zu Werkzeugen, die Lehrkräfte nutzen können. Andere Universitäten entwerfen Konzepte für digitalen Unterricht und stellen sie Schulen über Online-Portale zur Verfügung. Die RWTH Aachen bietet Schülern zum Beispiel einen Online-Mathe-Campus und virtuelle Exkursionen – und den Lehrkräften Online-Fortbildungen in Informatik.
Weitere QLB-Projekte unterstützen ihre Studierenden beim Einsatz in der Lernbetreuung von Schülern – durch Beratung und ganz praktisch dadurch, dass sie das Engagement als Schulpraktikum anrechnen. Zum Beispiel stellte die Freie Universität Berlin ihre "Lehr-Lern-Labore" auf virtuelle Umgebungen um und Studierende betreuen Schüler bei der Bearbeitung der Aufgaben im Zuge virtueller Sprechstundenangebote.
Wie experimentierfreudig und mutig Lehrkräfte agieren, hänge am allermeisten von den Schulleitungen ab, sagt Dziak-Mahler, und zwar in jeder Unterrichtssituation: "Wenn zum Beispiel die Abstandsregel sich als nicht realistisch erweist in der Betreuung von Grundschulkindern, dann brauche ich keinen Rektor und keine Rektorin, die kontrollierend durch die Räume laufen, sondern die sich hinter ihre Lehrkräfte und ihre Entscheidung stellen, von der Regel abzuweichen."
Mutige Lehrkräfte brauchen also mutige Schulleitungen, die wiederum brauchen mutige Schulaufsichten, und ganz am Ende der Kette stehen Kultusministerinnen und Kultusminister, die Selbstinitiative wollen und fördern. In der Krise kam von den Kultusministerinnen und Kultusminister allerdings zunächst wenig, dann folgten teilweise undurchführbare Hygieneregeln – und erst zuletzt Signale, dass man trotz des Virus wieder jeden Tag Präsenzunterricht will.
Was erst einmal eine gute Nachricht ist, denn Bildungsforschende sind sich einig, dass in der Zeit des reinen oder vorrangigen Fernunterrichts der Lernrückstand von Kindern aus bildungsfernen Familien gefährlich angewachsen ist. So warnt Becker-Mrotzek, dass es auch im nächsten Schuljahr wieder Phasen geben könne, "in denen der Unterricht ausschließlich mit digitalen Medien erfolgt." Für Becker-Mrotzek wäre das der "schlechteste Fall".
Doch was bleibt von dem Digitalisierungssprung, wenn nächstes Jahr im günstigsten Fall wieder alle Kinder jeden Tag zur Schule gehen können? Myrle Dziak-Mahler sagt: "Es besteht schon die Gefahr, dass manche Lehrkräfte ausatmen und denken, jetzt könnten sie weitermachen wie vor der Krise." Doch das würden wenige sein. Der Erwartungsdruck auf allen Seiten an eine veränderte Didaktik sei groß.
Können die Landesinstitute den Fortbildungsbedarf erfüllen? Und wann ist der Umgang mit digitalen Unterrichtsmedien endlich Pflichtbestandteil aller Lehramtsstudiengänge? Fragen, die Hochschulen und Bildungspolitik in den nächsten Monaten beantworten müssen. Parallel dazu müssen sie, ganz analog, die Sanitäranlagen an vielen Schulen in Ordnung bringen, damit zum Beispiel das häufige Händewaschen von den Schülern nicht nur theoretisch verlangt werden kann.
"Auch die wichtigste Veränderung hat dabei gar nichts mit der Digitalisierung zu tun", sagt Dziak-Mahler. Der Unterschied sei der individuelle Blick. Lehrkräfte würden eigentlich für die Lerngruppe ausgebildet. "In der Krise haben sie gelernt, auf jedes Kind in seiner ganz eigenen Lernsituation zu Hause zu schauen." Das, sagt Dziak-Mahler, sei der größte Gewinn.
Dr. Jan-Martin Wiarda ist freier Journalist, Wissenschaftskolumnist unter anderem im TAGESSPIEGEL und für die ZEIT, Wissenschaftsblogger www.jmwiarda.de und Moderator.