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Kinder und Jugendliche mit Rechenschwäche – eine Herausforderung für Schulen der Sekundarstufe : Datum:

Rechenschwachen Kindern und Jugendlichen mangelt es an grundlegendem Verständnis zu Zahlen und zum Rechnen. Sie haben Lernprozesse, die gemäß den Lehrplänen in der Grundschule erfolgen sollten, nicht vollzogen. Wie sollten Schulen und Lehrkräfte der Sekundarstufe damit umgehen? Wie kann den Kindern und Jugendlichen geholfen werden? Wer ist dafür zuständig? Zu dieser Thematik hat die Universität Bayreuth im Rahmen der „Qualitätsoffensive Lehrerbildung“ ein Bündel an Maßnahmen entwickelt und verankert.

Dr. Annalisa Steinecke sitzt an einem Tisch. Vor ihr liegt mathematisches Lernmaterial in Form von Würfeln.
Handlungsorientiertes Lernen (beispielsweise mit diesen Würfeln des so genannten Dienes-Materials) ist für die Entwicklung von Zahlenverständnis essentiell. © Annalisa Steinecke

Von Annalisa Steinecke und Volker Ulm

Rechenschwäche – was ist das?

„Ich habe in Mathe irgendwie einfach einen Knoten im Kopf“, sagt Emil, der die 5. Jahrgangsstufe eines Gymnasiums besucht. Emil ist kein Einzelfall. Obwohl die Bildungsstandards und Lehrpläne vorsehen, dass Kinder in der Grundschule tragfähige Vorstellungen zu den natürlichen Zahlen 1, 2, 3, … und den Grundrechenarten entwickeln sollen, gelingt dies nicht allen Grundschülerinnen und -schülern in hinreichendem Maße. Ein nennenswerter Anteil der Kinder (etwa 5 Prozent) verlässt die Grundschule, ohne verständnisbasiert rechnen zu können. Rechenschwache Kinder haben beispielsweise die Struktur des Dezimalsystems nicht durchschaut, Additionen und Subtraktionen werden durch Vor- und Rückwärtszählen mühsam und fehleranfällig ausgeführt, Multiplikationsaufgaben beziehungsweise das kleine Einmaleins wurden ohne Verständnis für Zusammenhänge auswendig gelernt. Schülerinnen und Schüler mit solchen Verständnisdefiziten können die Grundschule durch Auswendiglernen von Ergebnissen, ein gutes Gedächtnis und fleißiges Üben durchaus mit einer zufriedenstellenden Note im Fach Mathematik abschließen.

Folgen von Rechenschwäche in der Sekundarstufe

Im Mathematikunterricht der Sekundarstufe stehen rechenschwache Schülerinnen und Schüler dann jedoch vor de facto unüberwindbaren Problemen: Wie sollen sie mit negativen Zahlen, Brüchen in Bruch- und Dezimaldarstellung, Variablen und Termen rechnen, wenn ihnen bereits das hierfür notwendige Verständnis für natürliche Zahlen fehlt? Durch reines Auswendiglernen und Üben kommen sie nicht mehr weiter. Dadurch sind sie auch entscheidend daran gehindert, die vielfältigen Lernziele des Faches Mathematik in der Sekundarstufe zu erreichen. Cara, die wie Emil gerade in die 5. Klasse eines Gymnasiums übergetreten ist, erklärt: „Jetzt sind die Zahlen ja auch noch größer geworden und die Aufgaben noch schwerer – da komme ich einfach nicht mehr weiter.“

Wenn man diese Kinder und Jugendlichen also nicht spezifisch fördert, bleibt nicht nur die Rechenschwäche aus der Grundschule erhalten, sondern auch die Jahre in der Sekundarstufe können nicht wirkungsvoll für weiteren mathematischen Kompetenzzuwachs genutzt werden.

Herausforderung für Lehrkräftebildung

Lehrkräfte bzw. Schulen der Sekundarstufe stehen in Bezug auf rechenschwache Schülerinnen und Schüler somit vor substanziellen Herausforderungen: Zum einen sind sie gefordert, zu erkennen, welche ihrer Schülerinnen und Schüler rechenschwach sind, und jeweils individuell einzugrenzen, welche Schwierigkeiten diese Kinder und Jugendlichen haben. Zum anderen sollten rechenschwache Schülerinnen und Schüler in der Sekundarstufe auf Basis der Diagnostik gezielt gefördert werden, damit sie ihre Schwierigkeiten möglichst überwinden.
Da es sich hierbei thematisch um Lehrplaninhalte der Jahrgangsstufen 1 bis 3 handelt, besitzen Lehrkräfte der Sekundarstufe dazu in der Regel einen gewissen Fortbildungsbedarf. Im Studium, im Referendariat und in ihrer beruflichen Praxis haben sie sich nämlich jeweils mit der Mathematik der Sekundarstufe befasst, nicht aber mit den Inhalten der Grundschulmathematik. Sie haben also normalerweise keine Expertise zu Fragen wie etwa: Wie können Kinder Vorstellungen zu Zahlen im Bereich von 1 bis 1000 entwickeln? Wie kann man verstehen, was 203 minus 198 ist? Wenn man rechenschwachen Kindern und Jugendlichen in der Sekundarstufe helfen möchte, ist dies aus der Perspektive des Bildungssystems also auch eine Aufgabe für die Lehrkräftebildung.

Lehrkräftefortbildung bundesweit

Im Rahmen der „Qualitätsoffensive Lehrerbildung“ hat die Universität Bayreuth im Projekt „Fachliche & kulturelle Diversität in Schule & Universität“ Fortbildungsangebote in verschiedenen Formaten für Lehrkräfte in zahlreichen Bundesländern gestaltet.

Während der Corona-Pandemie wurde über das Schuljahr 2020/21 hinweg eine Online-Fortbildungsreihe zum Thema „Rechenschwäche“ für mehr als 40 Lehrkräfte durchgeführt. In fünf Nachmittagsveranstaltungen erarbeiteten die Lehrkräfte Fragen wie: Was ist Rechenschwäche? Wie kann man Rechenschwäche diagnostizieren? Wie kann man rechenschwache Kinder und Jugendliche fördern? Zwischen den Online-Treffen vertieften die Lehrkräfte die Thematik anhand von Fachliteratur.

Dieses Fortbildungskonzept wird seit 2021 von Frau Dr. Annalisa Steinecke weiterentwickelt und in verschiedenen Bundesländern mit mehreren Hundert Lehrkräften umgesetzt – beispielsweise in Kooperation mit der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie Berlin sowie dem Thüringer Institut für Lehrerfortbildung, Lehrplanentwicklung und Medien.

Modellversuch in Bayern

Der Bayerische Landtag hat 2020 den Impuls gegeben, dass die diagnosebasierte Förderung rechenschwacher Kinder und Jugendlicher der Sekundarstufe nachhaltig im Schulsystem in Bayern verankert werden soll. Dazu findet seit 2021 bis mindestens 2026 ein Modellversuch an 40 Schulen (Mittelschulen, Realschulen und Gymnasien) in allen Regierungsbezirken Bayerns statt, an dem mehr als 90 Lehrkräfte beteiligt sind. Er stellt eine Kooperation zwischen dem Bayreuther Projekt zur „Qualitätsoffensive Lehrerbildung“ und dem Bayerischen Staatsministerium für Unterricht und Kultus dar.

Die teilnehmenden Lehrkräfte erhalten zunächst über ein Schulhalbjahr hinweg Fortbildungen zur Thematik „Rechenschwäche“. Auf dieser Grundlage führen sie jeweils zu Beginn jedes Schuljahres eine entsprechende Diagnostik in Jahrgangsstufe 5 durch: Mit einem schriftlichen Rechentest werden rechenschwache Schülerinnen und Schüler identifiziert; anhand von Diagnosegesprächen wird weiter erkundet, welche spezifischen Verständnisschwierigkeiten diese Kinder haben. In einer sogenannten „Rechen-AG“ werden die ausgewählten Schülerinnen und Schüler sodann von den Lehrkräften an der jeweiligen Schule gefördert. Dieser individuelle Zusatzunterricht zur Überwindung der Rechenschwäche, den die Lehrkräfte als Bestandteil ihrer regulären Unterrichtsverpflichtung leisten, umfasst für die Schülerinnen und Schüler in der Regel ein Jahr. Bei regelmäßigen Projekttreffen im Modellversuch tauschen sich die Kolleginnen und Kollegen schul(art)übergreifend aus und initiieren Schulentwicklungsprozesse, bei denen sie von der Universität Bayreuth begleitet werden.

Die Schülerinnen und Schüler stehen dem Förderunterricht sehr aufgeschlossen gegenüber: „Wenn wir mit diesen Würfeln arbeiten, kann man sich die Zahlen richtig vorstellen“, sagt Emil, und Cara betont: „Ich habe jetzt wirklich schon viel mehr Lust auf Mathe“. Auch die beteiligten Lehrkräfte bestätigen den Erfolg der Fördermaßnahmen einstimmig: „Die Kinder sind erleichtert, dass sie ihre Defizite zeigen und in kleinen Schritten gezielt daran arbeiten dürfen.“ Sogar im regulären Mathematikunterricht sind schon nach wenigen Wochen positive Entwicklungen festzustellen: „Die Kinder sind selbstbewusster und melden sich zum Teil schon öfter.“

Verankerung in der ersten und zweiten Phase der Lehrkräftebildung

Neben den Angeboten zur Lehrkräftefortbildung hat die Universität Bayreuth die Thematik „Rechenschwäche“ im Zuge der „Qualitätsoffensive Lehrerbildung“ auch in den Lehramtsstudiengängen fest und dauerhaft verankert. Während anfangs nur einzelne Seminare für interessierte Studierende angeboten wurden, ist die Thematik seit 2022 Bestandteil einer Pflichtveranstaltung für alle Lehramtsstudierenden der Sekundarstufe mit Fach Mathematik, damit diese bereits in ihrem Studium Grundkompetenzen zum Umgang mit Rechenschwäche in der Schule erwerben können. Darüber hinaus fanden und finden Fortbildungen für Seminarlehrkräfte für Mathematik in der Sekundarstufe statt, sodass auch Referendarinnen und Referendare die Diagnostik und Förderung rechenschwacher Kinder und Jugendlicher als natürliche Facette des Umgangs mit Diversität in der Schule auffassen.


Dr. Annalisa Steinecke ist Studienrätin an einem Bayreuther Gymnasium, Koordinatorin des Modellversuchs zur Förderung rechenschwacher Schülerinnen und Schüler der Sekundarstufe und im Rahmen der „Qualitätsoffensive Lehrerbildung“ an die Universität Bayreuth teilabgeordnet.
Prof. Dr. Volker Ulm ist Inhaber des Lehrstuhls für Mathematik und ihre Didaktik und Direktor des Zentrums für Lehrerbildung an der Universität Bayreuth sowie Leiter der Bayreuther Projekte zur „Qualitätsoffensive Lehrerbildung“.