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Erkenntnisse der „Internationalen Grundschul-Lese-Untersuchung“ (IGLU) 2021 und deren Auswirkungen auf die Lehrkräftebildung : Datum:

Die Lesekompetenz ist eine zentrale Grundlage für schulischen Erfolg und gesellschaftliche sowie berufliche Teilhabe. IGLU 2021 verdeutlicht jedoch, dass ein substanzieller Anteil der Schülerinnen und Schüler in Deutschland am Ende der Grundschulzeit keine ausreichende Lesekompetenz erworben hat und sich diesbezüglich im Trend über 20 Jahre keine Verbesserung abzeichnet. Was bedeutet dies für die Lehrkräftebildung?

Zwei Lehrerinnen sprechen mit am Tisch sitzenden Schülern und zeigen ihnen etwas in einem Buch.
Lesekompetenz ist eine zentrale Grundlage für schulischen Erfolg und gesellschaftliche sowie berufliche Teilhabe. © BMBF/Alexandra Roth

Von Ramona Lorenz und Nele McElvany

Bildungsmonitoring wird dazu genutzt, eine belastbare empirische Grundlage zu liefern, um aktuelle Bildungsergebnisse zu analysieren und Handlungsbedarfe für die Weiterentwicklung des Schulsystems aufzuzeigen. Mit den Ergebnissen der „Internationalen Grundschul-Lese-Untersuchung“ (IGLU) 2021 wird die Lesekompetenz in den Blick genommen, die eine zentrale Grundlage für das gesamte schulische sowie außerschulische Lernen, gesellschaftliche Teilhabe und den weiteren Lebensweg der Schülerinnen und Schüler darstellt. IGLU wird seit 2001 alle fünf Jahre durchgeführt, womit für Deutschland der Trend für die Lesekompetenz über 20 Jahre vorliegt.

An IGLU 2021 haben weltweit mehr als 400.000 Schülerinnen und Schüler aus 65 Staaten und Regionen teilgenommen. In Deutschland nahmen 4.611 Viertklässlerinnen und Viertklässler aus 252 Schulen an der Testung teil und wichtige Kontextinformationen wurden von ihnen, ihren Erziehungsberechtigten, Lehrkräften und Schulleitungen erfasst.

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Ein Viertel der Viertklässlerinnen und Viertklässler in Deutschland erreichte nicht den international festgelegten Standard für eine Lesekompetenz, die für den erfolgreichen Übergang vom „Lesen lernen“ zum „Lesen, um zu lernen“ notwendig ist.
Ramona Lorenz und Nele McElvany

Kernbefunde zur Lesekompetenz

In Deutschland wurde eine mittlere Lesekompetenz von 524 Punkten erreicht, die im Vergleich mit den weiteren Teilnehmerstaaten und -regionen im Mittelfeld lag. Allerdings erreichten einige europäische Länder wie beispielsweise Bulgarien, England, Finnland, Italien oder Polen auch deutlich höhere mittlere Leistungen. Spitzenreiter waren Singapur und Hongkong. Mit Blick auf den 20-Jahre-Trend zeigte sich, dass die mittlere Lesekompetenz in Deutschland im Vergleich zu 2001 gesunken ist und der Trend absinkender Schülerleistungen bereits seit 2006 besteht. Zwischen 2016 und 2021 sank die mittlere Lesekompetenz besonders deutlich. Die pandemiebedingten Beeinträchtigungen und die sich verändernde Schülerschaft erklären nur einen Teil dieses Leistungsabfalls.

Differenzierter betrachtet ist bedenklich, dass der Anteil schwacher Lesender gestiegen ist, was sich anhand der fünf in IGLU definierten Kompetenzstufen zeigte. Ein Viertel der Viertklässlerinnen und Viertklässler in Deutschland erreichte nicht den international festgelegten Standard für eine Lesekompetenz, die für den erfolgreichen Übergang vom „Lesen lernen“ zum „Lesen, um zu lernen“ notwendig ist. Dieser Anteil war 2021 mit 25 Prozent deutlich größer als 2016 (19 Prozent) und 2001 (17 Prozent).

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In 20 Jahren hat sich im Hinblick auf die Bildungsgerechtigkeit und Chancengleichheit in Deutschland [..] praktisch nichts verändert.
Ramona Lorenz und Nele McElvany

Soziale und migrationsbedingte Disparitäten

Hinsichtlich sozialer Disparitäten zeigte IGLU 2021, dass Kompetenzvorsprünge von Schülerinnen und Schülern aus sozial privilegierteren Familien gegenüber Kindern aus sozial weniger privilegierten Familien in Deutschland stark ausgeprägt sind. Auch die Übergangspräferenzen am Ende der Grundschulzeit unterschieden sich substanziell je nach der sozialen Herkunft der Kinder: Bei gleicher Lesekompetenz und gleichen kognitiven Grundfähigkeiten hatte ein Kind aus einer (Fach)Arbeiterfamilie im Durchschnitt eine 2,5 Mal geringere Chance auf eine Gymnasialpräferenz seiner Lehrkraft als ein Kind mit Eltern in der Oberen Dienstklasse (zum Beispiel führende Angestellte und höhere Beamte).

Kompetenzvorsprünge von Kindern, die zu Hause immer oder fast immer die Testsprache – in unserem Fall Deutsch – sprechen, gegenüber Kindern, die zu Hause manchmal oder nie die Testsprache sprechen, waren in Deutschland 2021 stark ausgeprägt und lagen über dem Durchschnitt der EU- und der OECD-Teilnehmerstaaten. Diese substanziellen sozialen und migrationsbezogenen Disparitäten konnten seit 2001 nicht reduziert werden. In 20 Jahren hat sich im Hinblick auf die Bildungsgerechtigkeit und Chancengleichheit in Deutschland somit praktisch nichts verändert.

Schülerseitige Merkmale und Unterricht

Die mittlere Lesemotivation in Deutschland verringerte sich im 20-Jahre-Trend, war jedoch nach wie vor hoch. Wie auch bei der Lesekompetenz gab es systematische Geschlechterunterschiede zugunsten von Mädchen. Die Grundschülerinnen und Grundschüler bewerteten die Unterrichtsqualität insgesamt eher positiv, wobei die Klassenführung (zum Beispiel ruhiges Arbeiten und organisierte Abläufe) etwas weniger positiv bewertet wurde. Die aufgewendete Zeit für den Leseunterricht und lesebezogene Aktivitäten war in Deutschland mit durchschnittlich 141 Minuten pro Woche im Vergleich zum Durchschnitt der EU- (194 Minuten) und der OECD-Teilnehmerstaaten (205 Minuten) gering.

Implikationen für die Lehrkräftebildung

Eine klare Prioritätensetzung auf die Sicherung grundlegender Kompetenzen wie der Lesekompetenz in den ersten Grundschuljahren scheint unabdingbar. Hierzu gehört, die Qualität und auch die Quantität der mit lesebezogenen Aktivitäten verbrachten wöchentlichen Unterrichtszeit zu erhöhen.

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Eine gezielte Aus- und Weiterbildung aller Grundschullehrkräfte in den Bereichen der Lese- und Sprachförderung ist [..] zentral, da das Fundament zum weiteren Lernen in der weiterführenden Schule durch die Sicherstellung einer ausreichenden Lesekompetenz in den Grundschuljahren gelegt wird.
Ramona Lorenz und Nele McElvany

Es sollte ein qualitativ hochwertiger Leseunterricht im regulären Klassenkontext sichergestellt werden, der durch eine Differenzierung in Kleingruppen zum Aufholen von frühzeitig erkannten lesebezogenen Kompetenzrückständen und einer individuellen Unterstützung von Schülerinnen und Schülern mit besonderem Förderbedarf ergänzt wird. Dies erfordert eine systematische Verknüpfung von individueller Diagnostik mit gezielter Förderung anhand empirisch als wirksam belegter Leseförderkonzepte.

Eine gezielte Aus- und Weiterbildung aller Grundschullehrkräfte in den Bereichen der Lese- und Sprachförderung ist dazu zentral, da das Fundament zum weiteren Lernen in der weiterführenden Schule durch die Sicherstellung einer ausreichenden Lesekompetenz in den Grundschuljahren gelegt wird. Die Arbeit in multiprofessionellen Teams könnte dabei helfen, mit der migrations- und leistungsbedingten Heterogenität in Klassen umzugehen und eine systematische, wirksame Sprachförderung zu erzielen.

Die Ergebnisse von IGLU 2021 zeigen deutlich, dass die verschiedenen ergriffenen Maßnahmen in den vergangenen beiden Jahrzehnten nicht die erhoffte Wirkung gezeigt haben, den Bildungserfolg sowie die Bildungsungleichheit in Deutschland zu verbessern. Dieser Umstand ist untragbar, da er sowohl für die betroffenen Individuen als auch für unsere Gesellschaft mit hohen Kosten verbunden ist. Unser Bildungssystem muss zukünftig dringend sicherstellen, dass Kinder über eine grundlegende Lesekompetenz am Ende der Grundschulzeit verfügen.


Prof. Dr. Nele McElvany ist Geschäftsführende Direktorin des Instituts für Schulentwicklungsforschung (IFS) und Prorektorin für Forschung der Technischen Universität Dortmund. Seit 2016 ist sie die nationale wissenschaftliche Leitung von IGLU.
PD Dr. Ramona Lorenz ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Schulentwicklungsforschung (IFS) der Technischen Universität Dortmund und seit 2019 operative Projektleitung von IGLU 2021.