Von der Lehrkräftefortbildung zum „Teacher Learning“ in einer digitalen Welt. Gedanken zur Qualitätsentwicklung in der Atemlosigkeit des Alltags als Lehrkraft : Datum:
Das Thema Lernwirksamkeit spielt in Schule und Unterricht nur eine geringe Rolle. Im Vordergrund steht das Bemühen, verlässlich Unterricht zu erteilen. An dieser Stelle muss Qualitätsentwicklung ansetzen: Nicht in zählbaren Fortbildungsteilnahmen, sondern in Form einer grundsätzlich forschenden Perspektive auf die eigene Lehrtätigkeit, begleitet von geeigneter Unterstützung.
Ein Kommentar von Ulf Schweckendiek
Die Fort- und Weiterbildung von Lehrkräften in Deutschland entfaltet noch nicht die notwendige Wirksamkeit, um die Qualität von Lehren und Lernen entscheidend positiv zu beeinflussen. Während gutes Lehren und Lernen der Schülerinnen und Schüler mittlerweile hinreichend erforscht und darüber zudem ein weitreichender Konsens festzustellen ist, widmen sich die empirischen Bildungswissenschaften in den vergangenen Jahren mehr und mehr der Implementationsforschung: Wie lässt sich über Instrumente der Lehrkräftebildung ein Qualitätsbewusstsein in diesem Arbeitsfeld entwickeln, das weniger zwischen „gut“ und „schlecht“ unterscheidet, sondern Lehrkräfte zu kontinuierlich „Forschenden im eigenen Unterricht“ macht?
Statt Fortbildungsteilnahmen zu zählen, braucht es ein Umdenken zu einem kontinuierlichen „Teacher Learning“.
Bedeutsamkeit der 3. Phase der Lehrkräftebildung
Ein allgemein akzeptiertes Verständnis der Lehrkräftebildung besteht aus einem schlüssigen Zusammenwirken der drei Phasen: der universitären Ausbildung, des Vorbereitungsdienstes beziehungsweise Referendariats und der (mit Abstand längsten) Phase der berufsbegleitenden Professionalisierung. Dabei gerät die 3. Phase im Zuge der alltäglichen schulischen Herausforderungen oft aus dem Blick: „Es ist gar keine Zeit, sich auch noch fortzubilden zwischen Pflichtstunden, Pädagogik und Verwaltung“, lautet oftmals die Kritik.
Bundesweit wird auf diesen Umstand aktuell reagiert: Alle Bundesländer haben im Rahmen der Kultusministerkonferenz mit einem „Eckpunktepapier zur Fortbildung von Lehrkräften“ ihren Willen dazu bekundet, dieses Feld verstärkt in den Blick zu nehmen. Sowohl die „Qualitätsoffensive Lehrerbildung“ in ihrer zweiten Förderphase als auch das Transferprojekt „Kompetenzzentren für digitales und digital gestütztes Unterrichten in Schule und Weiterbildung“ unterstreichen dieses Bestreben in besonderer Weise.
Insbesondere im Zuge omnipräsenter Digitalität scheint damit das Bild der „fertig ausgebildeten Lehrkraft“ endgültig überholt:
- Mit der Förderung der Medienkompetenz gibt es ein in seiner Dynamik einmaliges aktuelles Querschnittsthema.
- Fachdidaktisch ergeben sich durch die Omnipräsenz von Fachinhalten in den Medien große Herausforderungen, diese geeignet auszuwählen und zu didaktisieren. Das gestaltet sich durch die unglaubliche Vielfalt erheblich anspruchsvoller als in der Vergangenheit.
- Das Potential, im Bereich der Mediendidaktik mit dem Einsatz digitaler Medien Abläufe und Lernerfolge in Schule effizienter zu gestalten, ist groß – setzt aber auch ein Umdenken und Hinterfragen von Gewohntem voraus, wie zum Beispiel dem Umgang mit liebgewonnenen Arbeitsblättern im Verhältnis zum Einsatz digitaler Lernumgebungen.
- Die Fachinhalte verändern sich im Zuge der Digitalität, zum Beispiel spielt im Mathematikunterricht der „Umgang mit Daten“ eine zunehmend große Rolle oder das Thema „Quellensicherheit und Meinungsbildung“ erhält eine sehr viel größere Bedeutung als in der Vergangenheit.
- Zudem muss Schule der informatischen Grundbildung – neben dem Fach Informatik – einen zeitgemäßen und gesellschaftlich notwendigen Stellenwert einräumen.
Ziel muss es deshalb sein, in der 3. Phase Unterstützungsstrukturen zu entwickeln und auszubauen, die noch mehr als bisher dazu geeignet sind, die Lehrkräfte effizient in ihrer Tätigkeit für gutes Lernen zu unterstützen. Das Berufsbild selbst wird sich zudem grundsätzlich verändern: Digitale Systeme haben das Potential, die systematische Zusammenarbeit von Lehrkräften in der Schule und im Unterstützungssystem zu erleichtern oder sogar erst zu ermöglichen, Fachinhalte jederzeit bereitzustellen, Verwaltungsabläufe zu verschlanken und über leicht zugängliche transparente Feedbacksysteme Qualität in den Blick zu nehmen.
Ausgestaltung der 3. Phase in Schule und Unterricht
Neben der Qualität ist der Faktor Zeit immer ein zentraler, wenn es um Fortbildungsaktivität geht: Wer kennt es nicht, nach einem langen Unterrichtstag „auch noch zur Fortbildung“? Leider ist zudem wissenschaftlich belegt, dass die Inhalte von Fortbildung in vielen Fällen nur geringen Einfluss auf den Unterricht und das Lernen selbst haben. Das liegt unter anderem daran, dass ein noch so wertvolles Angebot kaum Wirksamkeit entfalten kann, wenn die Passung zwischen Bedarfen, Akteurskonstellationen und Rahmenbedingungen der Nutzungsseite nicht vorliegt. Zudem wissen wir, dass nur eine kontinuierliche Intervention in der Professionellen Lerngemeinschaft des Kollegiums geeignet ist, tatsächlich bis auf die Lernebene der Schülerinnen und Schüler Wirksamkeit zu entfalten.
Deshalb werden zukünftige Formen in der 3. Phase einen erheblichen Fokus bekommen, die weniger den aktuell meist praktizierten Formaten der Lehrkräftefortbildung zuzuordnen sind, sondern eine kontinuierliche Qualitätsentwicklung („Teacher Learning“) meinen:
- Die Qualität von Lehr-Lern-Arrangements ist das zentrale Motiv von Bildungsprozessen: Der Maßstab einer guten Schule lässt sich nicht reduzieren auf geringen Unterrichtsausfall. Ein bewusster Umgang mit der – zugebenermaßen oft intransparenten – Lehr-Lernqualität muss das Handeln in Schule leiten. Michael Schratz bezeichnet dieses Denken aus der Perspektive von Schulleitungen als „lernseitiges Führen“: Was kommt in der Schule wirklich dem Lernen zu Gute?
- Die Unterstützung in der 3. Phase in Form von Fortbildung, Beratung und Begleitung muss sehr viel dichter an die schulische Praxis heranrücken: Regional – lokal – schulspezifisch – auch individuell.
- Die Qualifizierung soll weniger eine „Zusatzaufgabe“ für Lehrkräfte sein, sondern zu einem Teil des beruflichen Alltags in der Schule gehören: An Stelle temporärer Fortbildungsinitiativen sollte ein Verständnis von Qualitätsentwicklung treten, in dem kontinuierlich gelernt, erprobt und nachjustiert wird. Bekannte Beispiele dafür sind die aus dem asiatischen Raum bekannten „lesson studies“
Dazu beitragende Unterstützungsformate der 3. Phase können folgende sein:
- Begleitung von Fachschaften und deren Arbeit
- Individuelle Beratung
- Mikrofortbildungen innerhalb des Kollegiums
- Unterstützung durch geeignete Diagnostik-Instrumente und Interventionsszenarien
- Digital gestützte asynchrone und teil-asynchrone Fortbildungen – jederzeit – wann es in das Arbeitsfeld als Lehrkraft passt.
- Sogar: Begleitung und Unterstützung des Unterrichts selbst.
Ein kontinuierliches „Teacher Learning“ im Rahmen einer „Professionellen Lerngemeinschaft“ macht sich an den folgenden fünf Kriterien fest:
- Zielorientierung: „Wir arbeiten an einer gemeinsamen Sache, der Bildung unserer Schülerinnen und Schüler“
- Fokus „Lehren und Lernen“: „Wir arbeiten möglichst unmittelbar für den Unterricht“
- Deprivatisierung: „Ich muss bereit sein, meine Arbeit zu öffnen: Hospitation, Teamteaching, Konzepte, Material, Reflexion“
- Kollaboration: „Alle bringen ihre Stärken und Schwächen ein in das gemeinsame Curriculum“
- Reflexion des Handelns: „Kleine Schritte und ständige Überprüfung“
Um dafür die notwendigen Freiräume zu schaffen, kann es sich zum Beispiel lohnen, im Zuge der Digitalität Stundentafeln flexibler und potentiell lernwirksamer zu nutzen. Erfahrungen im Hinblick auf Lernwirksamkeit, die Schulen alle im vergangenen Schuljahr gemacht haben, sind nicht neu, aber noch einmal deutlich geworden:
- Es muss gelingen, die Lernprozesse von Schülerinnen und Schülern durch mehr individuelle Beratung und Begleitung zu befruchten.
- Eigenverantwortliches, zumindest selbstorganisiertes Lernen hat noch nicht den notwendigen Stellenwert.
- Digitale Angebote der Wissensbereitstellung, für die Diagnostik, für Feedback und Üben werden das klassische Unterrichten befruchten, vielleicht auch teilweise ablösen.
Eine zentrale Frage dafür, eine wirksame 3. Phase der Lehrkräftebildung zu organisieren, lautet: Ist wirklich alles, was Lehrkräften heute viel Arbeit macht und Zeit in Anspruch nimmt, notwendig, um für Schülerinnen und Schüler das bestmögliche Bildungsangebot bereitzustellen: Ist es „lernseitig“?
Sicher ist, dass wir der Professionalisierung von Lehrkräften an Schulen bundesweit einen erheblichen Stellenwert einräumen müssen. Der Prozess selbst ist dabei ein Feld, das immer wieder auf Basis aktueller Erfahrungen weiter justiert wird. Qualität muss sich gemeinsam entwickeln. Gute Qualifizierung, die passgenau die Konstellation vor Ort sensibel berücksichtigt, bedingt zudem ein gutes Zusammenspiel interner schulischer und externer – auch non-formaler Expertise im Rahmen eines kontinuierlichen „Teacher Learning“.
Dr. Ulf Schweckendiek ist Vorsitzender des Deutschen Verbands für Lehrkräftefortbildung (DVLfB), Schulleiter und war bis Sommer 2022 Leiter der Fachfortbildung in Schleswig-Holstein am Institut für Qualitätsentwicklung an Schulen Schleswig-Holstein (IQSH).