Lehramt an berufsbildenden Schulen 4.0 – vielfältige Herausforderungen und Potenziale für Studierende, Lehrende und Universitäten. Der Weg des Projekts "Leibniz works 4.0" der Universität Hannover : Datum:
Studierende des Lehramtes an berufsbildenden Schulen weisen häufig berufsbiografische Besonderheiten auf, welche mit spezifischen Bedarfen an ein Studium einhergehen. Diese Anforderungen gilt es aufzugreifen, um mehr Studierende für das berufliche Lehramt zu gewinnen und Studienabbrüche zu verhindern. Eine entscheidende Rolle spielt die Flexibilisierung des Studiums durch eine digital gestützte Lehre, die auch die Transformationsprozesse der Arbeit 4.0 aufgreift.
Von Julia Gillen, Tobias Key, Janine Michele, Kathrin Otten, Johannes Schäfers, Birga Stender und Fritz Wilhelms
Bundesweit deuten die Zahlen weiterhin auf eine bestehende strukturelle Nachfrage- und Abbruchproblematik im Lehramt an berufsbildenden Schulen hin, welche vor allem auf viele gewerblich-technische Fachrichtungen zutrifft. Um die Nachfrage nach dem Studienangebot zu erhöhen und gleichzeitig die Wahrscheinlichkeit des vorzeitigen Studienaustritts zu senken, bedarf es Maßnahmen, mit denen auf die spezifische Problem- und Bedarfslage des Studierendenklientels im berufsbildenden Bereich eingegangen wird.
Die besondere berufsbiographische Situation vieler Studierender erfordert eine diversitätssensible und flexiblere Gestaltung des Studienangebots
Qualitative Erhebungen an der Leibniz Universität Hannover belegen, dass im Bereich des Lehramtes an Berufsbildenden Schulen ein großer Bedarf für eine diversitätssensible und insgesamt flexiblere Gestaltung des Studienangebots besteht. Verantwortlich hierfür ist zum einen die besondere berufsbiographische Situation vieler Studierender, die im Unterschied zu anderen Lehramtsstudierenden meist nicht auf "klassischem" Weg an die Hochschule gelangt sind.
Bei Studienbeginn verfügen rund 40 Prozent der Studierenden im berufsbildenden Lehramt an der Leibniz Universität Hannover über Berufserfahrung und haben ihre Hochzugangsberechtigung über die Fachhochschulreife oder die fachgebundene Hochschulreife erlangt. Dadurch ist auch das Durchschnittsalter dieser Studierendengruppe entsprechend höher. Hinzu kommt, dass viele dieser Studierenden über ihr Elternhaus kaum mit akademischen Strukturen und Gepflogenheiten vertraut sind, häufig haben weder Mutter noch Vater studiert. Ihre Bildungslaufbahn weist vielfach eher berufsbezogen-operative als wissenschaftsorientierte Schwerpunkte auf, was zu einem gewissen "Fremdeln" mit akademischen Gesetzmäßigkeiten und Anforderungen führen kann.
Überdurchschnittlich häufig befinden sich diese Studierenden in Lebenssituationen, die nur schwer mit einem durchgängigen Vollzeit-Präsenzstudium vereinbar sind. Sie haben aufgrund sozioökonomischer Sachzwänge insgesamt größere Probleme, ihr Studium erfolgreich abzuschließen. Oft existieren finanzielle Sachzwänge, die eine parallele Berufstätigkeit erfordern.
Dies trifft insbesondere dann zu, wenn die Studierenden familiäre Bindungen haben und Kinder versorgen müssen. Der Zwang zum berufsbegleitenden Studieren eines eigentlich nicht dafür ausgelegten Studiums führt oft zu verlängerten Studienzeiten sowie insgesamt zu einer erhöhten Wahrscheinlichkeit des Studienabbruchs. Letzterer wird dadurch begünstigt, dass viele Studierende auf vormalige beziehungsweise alternative berufliche Optionen zurückgreifen können ("Rückfalloption"). Insgesamt lässt sich deshalb festhalten, dass diese spezifischen Bedingungen von Studierenden des beruflichen Lehramtes sich kaum mit unflexiblen Studienstrukturen und starren Präsenzpflichten vereinbaren lassen.
"Leibniz works 4.0" setzt bei der Flexibilisierung von curricularen Strukturen und Veranstaltungsformaten durch digitale Studieninhalte an
Daher setzt das Projekt "Leibniz works 4.0: Veränderte Lern- und Arbeitswelten in der Beruflichen Bildung" bei der Flexibilisierung von curricularen Strukturen und Veranstaltungsformaten durch digitale Studieninhalte an.
Wie an der Mehrheit der Hochschulen wurde sowohl das Sommersemester 2020 als auch das Wintersemester 2020/21 an der Leibniz Universität Hannover als digitales Semester angeboten. Im Hinblick auf das Projektziel der Schaffung von flexiblen Studienstrukturen durch digitale Studienangebote wurden die in diesen Semestern bereits angebotenen digitalen Studienangebote durch eine "Sonderevaluation zur Analyse digital gestützter Lehre" auf ihren Erfolg hin überprüft. Hierzu wurden die beruflichen Lehramtsstudierenden sowohl der Bachelor- als auch der Masterstudiengänge sowie die Lehrenden nach ihren ersten Erfahrungen mit dem digitalen Semester und den Lehrveranstaltungen befragt. Die digitale Lehre wurde in den einzelnen Lehrveranstaltungen des Bachelors of Technical Education sowie des Masters Lehramt an berufsbildenden Schulen sehr unterschiedlich umgesetzt. Die Studierenden waren in ihrer Beurteilung durchaus kritisch: Nicht alle Lösungen haben sie als zufriedenstellend eingeschätzt. Gründe hierfür können in der ad Hoc-Erstellung der digitalen Studieninhalte im Sinne des "Emergency Remote Teaching" gesehen werden.
In einer zweiten Sonderevaluation ist eine Fokussierung auf den Bedarf und die Erwartungen an die digital gestützte Lehre mit Implikation der berufsbiografischen Besonderheiten der Studierenden geplant. Auf Grundlage der Ergebnisse der Sonderevaluation wird nun im Rahmen des Projektes "Leibniz works 4.0" ein tragfähiges und fachrichtungsübergreifendes Gesamtkonzept für ein Studium des beruflichen Lehramts angestrebt, das die skizzierten inhaltlichen und strukturellen Herausforderungen aufgreift.
Neben dieser adressatengerechten Anpassung von Studienstrukturen durch eine digitale Lerninfrastruktur spielt die Digitalisierung im Projekt "Leibniz works 4.0" auch für die Gestaltung von Lerninhalten in mehrfacher Hinsicht eine bedeutende Rolle: Zum einen steigt die Zahl der den beruflichen Fachrichtungen zugeordneten Ausbildungsberufe seit Jahren kontinuierlich. In den sechs an der Leibniz Universität Hannover angebotenen beruflichen Fachrichtungen existieren mittlerweile annähernd 100 Berufsausbildungen. Hinzu kommen rund 30 Bildungsgänge in unterschiedlichen Schulformen. Daher ist eine inhaltliche Differenzierung fachrichtungsbezogener Studieninhalte erforderlich, damit diese anschlussfähig an immer stärker spezialisierten Berufsausbildungen bleiben.
Die tiefgreifende Transformation der Arbeitswelt wirkt sich auf die Ausbildung von Lehrkräften für berufsbildende Schulen aus
Hierbei bieten digitalisierte Lehr- und Lernformate wie Lernmanagementsysteme, Erklärvideos oder der Einsatz von virtueller oder augmentierter Realität große didaktische Potenziale. Zum anderen durchdringen die zunehmende Digitalisierung und Automatisierung der Arbeitswelt (Industrie und Handwerk 4.0) einen Großteil der Aufgabenstellungen in den auszubildenden Berufen und verändern die Arbeits- und Geschäftsprozesse und das dafür notwendige Prozesswissen fundamental. Diese tiefgreifende Transformation der Arbeitswelt bleibt nicht ohne Rückwirkungen auf die Ausbildung von Lehrkräften für berufsbildende Schulen. Für die Universitäten bedeutet dies, dass technische und dienstleistungsbezogene Studieninhalte sowohl in den Fachwissenschaften, als auch in den Fachdidaktiken systematisch aktualisiert werden müssen.
Dieser anspruchsvolle Entwicklungsprozess von Studium und Lehre bedarf neben personeller Ressourcen und technischer Infrastruktur vor allem einer interdisziplinären Verzahnung von Fachdidaktik, Fachwissenschaft und Berufspädagogik. Diese bildet die Grundlage für eine erkenntnisleitende Hochschullehre in der gewerblich-technischen beruflichen Lehramtsausbildung, welche wiederum die Voraussetzung dafür ist, dass zukünftige Lehrkräfte innovativen und anschlussfähigen Schulunterricht gestalten können.
Julia Gillen ist Vizepräsidentin für Lehre an Leibniz Universität Hannover, dort als Professorin am Institut für Berufspädagogik und Erwachsenenbildung tätig und leitet das Projekt "Leibniz works 4.0". Im Projekt arbeiten unterschiedliche berufliche Fachrichtungen mit dem Fachbereich Berufspädagogik zusammen, welches durch die einzelnen Projektmitarbeiter repräsentiert wird: Tobias Key (Lebensmittelwissenschaft), Janine Michele (Berufspädagogik), Johannes Schäfers (Berufspädagogik), Birga Stender (Elektrotechnik), Fritz Wilhelms (Bautechnik, Farbtechnik- und Raumgestaltung, Holztechnik). Kathrin Otten ist Projektkoordinatorin von "Leibniz works 4.0" und Mitarbeiterin des Team Forschung der Leibniz School of Education.