Interaktive digitale Zeugnisse von Holocaust-Überlebenden: Eine innovative Technologie im Einsatz an Schulen und Hochschulen : Datum:
Seit Februar 2018 arbeitet das Münchner Projekt "Lernen mit digitalen Zeugnissen" an interaktiven 3D-Zeugnissen von Überlebenden des Holocaust. Die digital aufbereiteten Erinnerungen von Eva Umlauf und Abba Naor wurden nun erstmals bei Studierenden sowie Schülerinnen und Schülern eingesetzt.
Von Markus Gloe
Wenn Zeitzeuginnen und Zeitzeugen in absehbarer Zeit sterben, kommt es auf Bemühungen der Gesellschaft an, inwieweit die Erinnerungen an und das Wissen über die Verbrechen der Nationalsozialisten im kulturellen Gedächtnis verankert bleiben. Interaktive digitale Zeugnisse sind ein Versuch, Erinnerungen von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen für eine ungewisse Zukunft zu bewahren und für Studierende sowie Schülerinnen und Schüler oder Besucherinnen und Besucher von Museen und Gedenkstätten, eingebettet in ein pädagogisches Konzept, zugänglich zu machen.
Nutzerinnen und Nutzer können den Hologrammen von Zeitzeugen individuelle Fragen stellen
In der ersten Phase der "Qualitätsoffensive Lehrerbildung" verfolgte das Projekt "Lernen mit digitalen Zeugnissen" (LediZ) das Ziel, eine "interaktive" Erschließung von Zeugnissen von Überlebenden des Holocaust auch nach ihrem Ableben zu sichern und eine Verbindung zwischen fragendem Menschen und Zeuginnen oder Zeugen beziehungsweise deren Zeugnis zu initiieren. Interaktive digitale Zeugnisse unterscheiden sich erheblich von den bisherigen Interviews mit Überlebenden, die meist linear und am Stück rezipiert werden. Nutzerinnen und Nutzer eines interaktiven digitalen Zeugnisses können individuelle Fragen stellen und damit eigenen Interessen nachgehen.
Holocaust-Überlebende beantworteten 1.000 Fragen zu ihren Lebensgeschichten vor, während und nach dem Krieg
Um die interaktiven digitalen Zeugnisse zu erstellen, wurden der Zeitzeugin und dem Zeitzeugen 1.000 Fragen gestellt und die Antworten stereoskopisch zunächst festgehalten. Anschließend wurden die einzelnen Antworten auf einem Videoserver gehostet und über eine App angesteuert. So können Personen über ein Mikrofon Fragen an das technische System stellen. Sobald eine Frage gestellt wird, prüft eine Spracherkennungssoftware, ob eine passende Antwort vorliegt, und spielt dann den entsprechenden Video-File in 3D oder 2D auf einer Projektionsfläche ab.
Die 1.000 gestellten Fragen wurden nach einem eigens entwickelten System variiert, so dass möglichst viele Frageformulierungen zugeordnet werden können. Liegt keine passende Antwort vor, erhält die Benutzerin oder der Benutzer ebenfalls in einer Videodatei die Rückmeldung, dass dazu keine Antwort aufgezeichnet wurde beziehungsweise die Frage anders gestellt werden soll. Damit werden also aus dem vorhandenen Material, gemäß dem jetzigen Stand der Technik, keine neuen Antworten generiert, sondern neuartige Verbindungen zwischen Zuhörern und Zeugen hergestellt. Nach einer Frage-Antwort-Session werden die Zuordnungen des Systems per Hand überprüft und gegebenenfalls falsche Zuordnungen korrigiert. So kann das System verbessert werden.
Zeitzeugen müssen sich auf die Produktion der interaktiven digitalen Zeugnisse einlassen
Zu beachten ist, dass die interaktiven digitalen Zeugnisse nicht einfach aus bereits bestehenden Interviews mit Zeitzeuginnen oder Zeitzeugen gewonnen werden können, sondern spezielle aufwendige Aufnahmeprozeduren vorangehen. Die heute nur noch wenigen Holocaust-Überlebenden müssen sich also auf die mühsame Produktion der interaktiven digitalen Zeugnisse einlassen. Nicht nur die körperlichen und psychischen Strapazen, sondern auch die Ungewissheit, was mit den Aufnahmen nach ihrem Ableben geschieht, lässt manche unter ihnen vor diesem Schritt zögern.
Erste Einsätze und weitere Erforschung der interaktiven digitalen 3D-Zeugnisse
Nachdem die interaktiven digitalen 3D-Zeugnisse der Holocaust-Überlebenden Abba Naor und Dr. Eva Umlauf am 22. Januar 2020 der Öffentlichkeit im Leibniz-Rechenzentrum der Bayerischen Akademie der Wissenschaften präsentiert wurden, war ab dem Frühjahr 2020 der Einsatz an bayerischen Schulen geplant. Die Schulschließungen aufgrund der Corona-Pandemie haben der Erforschung des Einsatzes einen Strich durch die Rechnung gemacht.
Dennoch konnten sowohl mit Studierendengruppen als auch mit Schülerinnen und Schülern erste Einsätze der interaktiven digitalen 3D-Zeugnisse erprobt werden. Auch an der KZ-Gedenkstätte Dachau war das Projekt LediZ für eine Woche zu Gast und konnte die interaktiven digitalen 3D-Zeugnisse unter Coronabedingungen testen. Schülerinnen und Schüler lernen so, Fragen als grundlegendes Erschließungsinstrument von Wissen erkennen. Im Kontext der Universität wiederum bietet diese neue Art der historischen Quelle Studierenden die Möglichkeit, sie mit traditionelleren Formen der Zeugenschaft, wie etwa Printmedien oder Videozeugnissen zu vergleichen und so den kritischen Blick auf historische Quellen zu schärfen.
Das abstrakte historische Wissen, das Schülerinnen und Schüler oftmals über die Verbrechen der Nationalsozialisten haben, wird durch die Interkation mit den digitalen Zeugnissen um eine biographische Komponente bereichert. Für folgende Generationen, die nie die Möglichkeit haben werden, Holocaust-Überlebende persönlich zu treffen, sind die digitalen Zeugnisse außerdem die einzige Möglichkeit, eine Art Zeitzeugengespräch zu führen.
Die weitere empirische Erforschung des Einsatzes digitaler interaktiver Zeugnisse wird gerade vorbereitet. Die gewonnen Daten dienen entsprechend dem Design-Based-Research-Ansatz zum einen der Weiterentwicklung der beiden interaktiven 3D-Zeugnisse. Außerdem wird auf der Grundlage der Forschungsdaten ein pädagogisches Setting entwickelt, in dem die digitalen interaktiven Zeugnisse zur Anwendung kommen. Weitere interaktive Zeugnisse anderer Opfergruppen, zum Beispiel der Sinti und Roma, sowie eine mobile Variante der bestehenden interaktiven Zeugnisse sind in der Vorbereitung.
Prof. Dr. Markus Gloe leitet seit 2017 die Lehreinheit Politische Bildung und Didaktik der Sozialkunde am Geschwister-Scholl-Institut für Politikwissenschaft der Ludwig-Maximilians-Universität München. Er ist Teil des Koordinatorenteams des Projekts "Lernen mit digitalen Zeugnissen" (LediZ).