Das Marburger Modell der Professionsbezogenen Beratung – Stärkung der überfachlichen Kompetenzentwicklung von Studienbeginn bis -ende : Datum:
Seit 2015 entwickeln das Zentrum für Lehrerbildung (ZfL) und die Pädagogische Psychologie an der Philipps-Universität Marburg gemeinsam das Angebot der phasenübergreifenden Professionsbezogenen Beratung. Vom Studienbeginn bis zum Übergang in den Vorbereitungsdienst werden Studierende in ihrer überfachlichen Kompetenzentwicklung begleitet. Im folgenden Interview erläutern die Referentinnen und der Leiter des Arbeitsbereichs im ZfL die konkrete Ausgestaltung.
Was ist das Marburger Modell der Professionsbezogenen Beratung?
Stellmacher: Unsere Professionsbezogene Beratung umfasst mittlerweile verschiedene Angebote, die der Reflexion und Weiterentwicklung überfachlicher Kompetenzen dienen. Ganz zentral ist ein individuelles Beratungsgespräch zur überfachlichen Kompetenzentwicklung, das wir im Anschluss an das 8-wöchige Schulpraktikum anbieten, um die konkreten Erfahrungen aus der Schule für Reflexionen zu nutzen. Als Vorbereitung hierfür dient ein Pflichtteilmodul vor dem Praktikum. Zu Beginn des Studiums haben Studierende zudem bald die Möglichkeit, ihre überfachlichen Kompetenzen durch ein Online-Self-Assessment (OSA) genauer in den Blick zu nehmen. Außerdem entwickeln wir Angebote, die den Übergang vom Studium in den Vorbereitungsdienst erleichtern. Unser Ziel ist es, die Begleitung der überfachlichen Kompetenzentwicklung von Studienbeginn bis -ende auszuweiten.
Der Fokus dieses Newsletters ist die Lehrkräftegesundheit. Welche überfachlichen Kompetenzen tragen aus Ihrer Sicht dazu bei, die Gesundheit von angehenden Lehrkräften langfristig zu fördern?
Lübke: Mit unserem Beratungsmodell möchten wir vor allem die Selbstregulationskompetenzen systematisch über den gesamten Studienverlauf fördern. Der Beruf einer Lehrkraft ist von den Anforderungen her sehr vielfältig. Das geht weit über das eigentliche Unterrichten hinaus. Lehrkräfte müssen sich zum Beispiel immer wieder auf neue Lerngruppen und Persönlichkeiten von Schülerinnen und Schülern einstellen. Dazu kommen die Unterrichtsvor- und -nachbereitung sowie organisatorische Aufgaben.
Nehmen Menschen ein Ungleichgewicht bezüglich der an sie gestellten Anforderungen und den eigenen Ressourcen zur Bewältigung wahr, entsteht Stress. Dauert dieser über längere Zeit an, kann er sich negativ auf die Gesundheit und die Leistungsfähigkeit – und damit auch auf die Schülerinnen und Schüler und den Unterricht – auswirken. Gerade in herausfordernden Situationen können gute Selbstregulationskompetenzen stressreduzierend wirken. Sie helfen, das eigene Verhalten, aber auch die Gedanken und Emotionen in diesen Situationen systematisch auf ein bestimmtes Ziel hin auszurichten. Das betrifft zum Beispiel das Schaffen von günstigen Arbeitsbedingungen oder den Umgang mit stressverstärkenden Denkmustern, aber auch das Regulieren der eigenen Motivation und Emotionen in schwierigen Situationen. Das ist wichtig für eine professionelle Haltung.
Roitzsch-Pröhl: Letztendlich wollen wir mit unserem Projekt dazu beitragen, dass Studierende am Ende des Studiums besser auf den Umgang mit den vielfältigen Anforderungen im Vorbereitungsdienst und im späteren Beruf vorbereitet sind und leichter mit herausfordernden Situationen zurechtkommen beziehungsweise weniger negativen Stress erleben. Dass das im Studium bisher zu kurz kam, entnehmen wir beispielsweise Interviews, die wir mit Studierenden sowie mit Lehrkräften im Vorbereitungsdienst (LiVs) des hiesigen Studienseminars für Gymnasien geführt haben. Beide Gruppen berichteten, dass sie sich durch das Studium zu wenig auf diese überfachlichen Anforderungen vorbereitet fühlten.
Wie genau sieht die Förderung der Selbstregulationskompetenzen aus?
Roitzsch-Pröhl: Ich denke, unser bedeutendster Fortschritt ist, dass wir es in der 2. Förderphase der „Qualitätsoffensive Lehrerbildung“ von ProPraxis geschafft haben, mit Hilfe eines verpflichtenden Teilmoduls mit anschließendem Beratungsangebot, neben der fachwissenschaftlichen und schulpädagogischen Vorbereitung auf die Schule auch die Förderung der Selbstregulationskompetenzen curricular im Lehramtsstudium zu verankern. Das bietet die einzigartige Möglichkeit, dass alle Studierenden von diesem Konzept profitieren. Für eine effektive Förderung mit starkem Praxisbezug, findet diese curriculare Einbettung direkt vor und nach dem Schulpraktikum statt – also bevor und nachdem die Studierenden erstmals längere Zeit als angehende Lehrkräfte an die Schulen gehen und unterrichten.
Wir setzen dabei auf die Verknüpfung von Theorievermittlung, praktischem Üben und Reflexion des Erlebten. Konkret heißt das, alle Studierenden besuchen eine Vorlesung mit begleitendem Tutorium, die von der Pädagogischen Psychologie in enger Kooperation mit unserem Arbeitsbereich gestaltet wird. Hier erwerben sie notwendiges Hintergrundwissen zu überfachlichen Kompetenzen und setzen sich mit eigenen Stärken und Entwicklungsbereichen auseinander. Außerdem können sie verschiedene Selbstregulationsstrategien – zum Beispiel zum Zeitmanagement – praktisch ausprobieren und festigen. Im Praktikum können sie das Wissen und die Strategien im Alltag anwenden und in einem anschließenden Beratungsgespräch gezielt reflektieren.
Und das funktioniert?
Lübke: Die Evaluationen stimmen uns sehr positiv. Die Studierenden gaben einen großen Wissenszuwachs an. Je mehr sie an theoretischem Wissen aufbauten, desto zuversichtlicher waren sie vor dem Praktikum, die besprochenen Strategien erfolgreich umsetzen zu können. Auch die Beratungsgespräche wurden als sehr bereichernd erlebt. Wir entwickeln das Angebot aber immer weiter, um es noch besser auf die Bedürfnisse der Studierenden abzustimmen. So haben wir gerade den Austausch mit LiVs eingebaut, die vom Berufsalltag und den Aufgaben im Studienseminar berichten. Das soll den Praxisbezug stärken und Unsicherheiten abbauen. Zudem haben wir das Tutorium in ein Workshop-Angebot umgewandelt. Die Studierenden können jetzt in Mini-Fortbildungen die Themen praktisch vertiefen, die für sie persönlich wichtig sind und bei denen sie durch die angeleiteten Reflexionen bei sich einen Bedarf entdeckt haben. Dort geht es zum Beispiel um das Setzen von Zielen, Achtsamkeit und Entspannung oder den Umgang mit eigenen Emotionen vor der Klasse. Das wird sehr gut angenommen.
Die individuellen Beratungsgespräche stellen eine Besonderheit des Marburger Modells dar. Können Sie hierzu etwas mehr sagen?
Lübke: Die Studierenden können sich nach dem Praktikum auf Basis der erwähnten Reflexionen in der Praktikumsvorbereitung und den praktischen Erfahrungen in einem individuellen, freiwilligen Gespräch zu ihrer bisherigen Kompetenzentwicklung beraten lassen. Dazu werden wissenschaftlich fundierte Testdiagnostiken zu überfachlichen Kompetenzen – zum Beispiel zur Motivierung von Schülerinnen und Schülern – eingesetzt. So können relevante Themen in der bisherigen Kompetenzentwicklung effektiv identifiziert und besprochen werden.
Roitzsch-Pröhl: Neben Selbsteinschätzungen der Studierenden werden dabei auch Fremdeinschätzungen von betreuenden Lehrkräften aus dem Praktikum berücksichtigt. Dadurch haben wir eine umfangreiche Informationsbasis für die Gespräche. Wir psychologische Beraterinnen schauen dann gemeinsam mit den Studierenden, in welchen Bereichen sie schon gut aufgestellt sind und wo sie noch Entwicklungspotentiale sehen. Daraus werden Strategien abgeleitet, um noch günstiger mit Herausforderungen umgehen zu können.
Welche weiteren Unterstützungsmöglichkeiten zur Kompetenzentwicklung bieten Sie noch?
Stellmacher: Grundsätzlich haben alle Lehramtsstudierenden der Uni Marburg zu jedem Zeitpunkt ihres Studiums die Möglichkeit, unsere Beratung in Form von anlassbezogenen Gesprächen zu nutzen. Für die systematische Förderung der Kompetenzentwicklung setzen wir außerhalb der Praxisphase auf Angebote zu Beginn und zum Ende des Studiums.
Für Studieninteressierte sowie Studienanfängerinnen und -anfänger erstellen wir gerade ein OSA zu überfachlichen Kompetenzen. Dies soll bestehende fachbezogene OSAs ergänzen. Den Studierenden wird dadurch schon früh aufgezeigt, welche Anforderungen im Studium und in der späteren Berufspraxis auf sie zukommen und welche Kompetenzen dafür wichtig sind. So bleibt ihnen noch viel Zeit, sich gezielt weiterzuentwickeln und sie sehen, welche Ressourcen und Stärken sie bereits mitbringen. Für Studierende in höheren Semestern planen wir Angebote, um den Übergang ins Studienseminar und den Berufsalltag zu erleichtern. Hierzu kooperieren wir mit dem Studienseminar für Gymnasien in Marburg. Insgesamt schaffen wir so ein rundes Angebot, um die Selbstregulationskompetenzen der Lehramtsstudierenden zu stärken und wichtige Ressourcen für einen gesunden Berufsalltag zu fördern.
Dr. Laura Lübke ist Psychologin und arbeitet seit 2019 im Projekt ProPraxis als Referentin für Professionsbezogene Beratung am Zentrum für Lehrerbildung und zudem als wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Arbeitsgruppe Pädagogische Psychologie der Philipps-Universität Marburg.
Dominique Roitzsch-Pröhl ist Psychologin und arbeitet seit 2019 im Projekt ProPraxis als Referentin für Professionsbezogene Beratung am Zentrum für Lehrerbildung und promoviert zudem im Rahmen von ProPraxis am Institut für Schulpädagogik der Philipps-Universität Marburg.
Dr. Jost Stellmacher ist Psychologe und Oberstudienrat im Hochschuldienst in der Arbeitsgruppe Pädagogische Psychologie an der Philipps-Universität Marburg. Er ist seit 2008 am Fachbereich Psychologie der Philipps-Universität Marburg für die Koordination und Durchführung der Lehrkräftebildung in der Psychologie zuständig.